„Verdun ist scheinbar Geschichte“ von Nikolai B. Forstbauer, Stuttgarter Nachrichten, 31. Mai 2022

25.05.2022 - 29.07.2022

Solo Show „Simon Herkner. Bacchanal“

Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff, Stuttgart

Der Stuttgarter Künstler Simon Herkner sieht sich als Bildhauer und verwandelt die Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff in eine Anlage des Todes und des Lebens.

STUTTGART. Das hat man lange nicht gesehen. Hoch ragen die Gerüststangen in den kleineren Raum der Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff in Stuttgart. Formulieren einen Raum im Raum, dessen Zentrum – verhüllt mit schwarzer Plane – an eine Totenbahre denken lässt. Roh und doch selbstverständlich genug geschieht dies alles, um das Ausrufezeichen des gewollt Anderen zu vermeiden. Eine Anlage, die an die Radikalität des viel zu früh verstorbenen Stuttgarter Künstlers Werner Rech erinnert.

„Ich verstehe mich als Bildhauer“, sagt Simon Herkner. „Alles, was ich sehe, was mich interessiert, schaue ich unter der Frage an, wie man es mit welchem Material fassen, fortführen, erweitern könnte.“

Es braucht nicht viel, um mit Herkners Konstrukt von der Bahre auf eine Tunnelsicherung zu kommen. Ein Bildschirm markiert den möglichen Eingang. Von hier aus geht es mit Herkners Kamera hinein in ein ganzes System unterirdischer Gänge. Hinein in die Bunkeranlagen von Verdun – Sinnbild des (militärischen) Wahns, Menschen als Material zu sehen, das bei ausreichend Nachschub aus dem Weg räumt, was die
Artillerie-Batterien zuvor in Stücke gerissen haben.

Auch diese Logik des Ersten Weltkrieges war keine, real aber das Grauen des Grabenkrieges, das in den endlosen Namensreihen von Verdun nur scheinbar stumme Zeugen hat. Tatsächlich erschüttert der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918
in seiner nicht fassbaren Gewalt immer neue Generationen.

Simon Herkner ist 1986 in Stuttgart geboren, dem Studium Visueller Kommunikation in Pforzheim lässt er 2021 das Kunst-Diplom an der Stuttgarter Kunstakademie folgen. Messebau sichert ihm nicht nur die Grundfinanzierung, sondern auch den Zugang zu Blechen, Planen und anderen Materialien.

Herkner kommt aus der Klasse des Schweizers Reto Boller. Dessen ganz eigene Annäherung an Räume und Zusammenhänge sowie an Themen wie Ironie und Maskerade beziehungsweise Demaskierung waren über das Engagement der Galerie Mueller-Roth viele Jahre auch in Stuttgart gut zu verfolgen.

„Bacchanal“ ist die Schau von Simon Herkner überschrieben. Es ist eine Premiere, es ist die erste Einzelausstellung in der Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff in Stuttgart (Paulinenstraße 47) – und der Titel zeigt schon, dass Herkners Kunst eine des doppelten Bodens ist. Das rauschhafte Feiern des Frühlings? Wird in Verdun von 21. Februar 1916 an zu „Exzess und Rausch in seiner dramatischsten Entfesselung“ (Herkner).

Nicht das Sterben aber ist das eigentliche Thema Simon Herkners, sondern das Leben. Wie das? Über die Erinnerungsarbeit in Verdun kommt er zur Rückversicherung in der Gegenwart. Freunde in Reih und Glied, „identifiziert“ über ihre Geburtsdaten auf Aluminiumbechern. Dann wiederum die Namen der Freunde, dieses Mal nur ahnbar auf
spiegelnden Gründen – Herkner hat so wichtige Begleiterinnen und Begleiter immer um sich.

Braucht es aber den nicht nur doppelten Boden der Erinnerung an das bekannteste der buddhistischen Glückssymbole als Hinweis auf die Aneignung von Leben in der buchstäblichen Umkehrung der Swastika im Nationalsozialismus? „Tatsächlich geht es weder um das eine noch das andere“, sagt Simon Herkner. Und es stimmt ja: Seine Formative stehen für sich – auf schmalem Grat.

Schon aber lockt Herkner mit anderen Bezügen, anderen Erinnerungen, anderen Übersetzungen. Immer wieder auch über Musik. Sie umspielt die Verdun-Erinnerung „Le Mort Homme“ und spiegelt sich in der weiteren Formenrhythmik. „Musik“, sagt Simon Herkner denn auch, „spielt in meiner
Arbeit eine zentrale Rolle.“

Eher beiläufig mit Wegmarken der Moderne kokettierende Siebdrucke werden über breite und bewusst den Werkstattcharakter spiegelnde Aluminiumprofile zu eigenwertigen Bildern, und Alu-Motorenteile sowie Seitenairbags von Mercedes sowie verbeulte und gar angebrochene Schlagzeugbecken von Paiste werden, ihrer Nutzung entrissen, zu Zeugnissen realer Hoffnung auf Überzeitlichkeit. Industrieprodukte als „Reliquien“ (Herkner) – das ist nicht neu, aber Simon Herkner wagt die Aneignung in ganz eigener Konsequenz.

„Bacchanal“ ist ein großartiges Signal für den Mut privater Galerien, aktueller Kunst Freiraum und Entwicklungsraum zu geben. Simon Herkner setzt ein Ausrufezeichen, das Wirkung haben wird.

Simon Herkner ist 1986 in Stuttgart geboren worden und studierte nach seinem Abschluss in Visueller Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim an der Kunstakademie Stuttgart (Abschluss 2021). Er lebt und arbeitet in Stuttgart.

„Bacchanal“ ist die erste Einzelausstellung von Simon Herkner in der Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff in Stuttgart (Paulinenstraße 47, www.reinhardhauff.de). Zu sehen ist die
Schau bis zum 29. Juli (Dienstag bis Freitag 13 bis 18 Uhr). Im Themenfeld der Erinnerungsarbeit und Analyse gesellschaftlicher Gewalt vertritt die Galerie unter anderem
die Künstler Clément Cogitore und Thomas Locher.

Verdun Mit einem Angriff deutscher Truppen auf den Festungsgürtel vor der im Nordosten Frankreichs gelegenen Stadt Verdun beginnt am 21. Februar 1916 eine der längsten
und verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkrieges an der Westfront zwischen Deutschland und Frankreich. Mehr als
300.000 deutsche und französische Soldaten wurden getötet.

Gedenken Im Beinhaus von Douaumont werden die Gebeine von etwa 130.000 nicht identifizierten deutschen und französischen Soldaten verwahrt. Bei Fleury befindet sich das Museum Mémorial de Verdun. nbf

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