“Les Indes Galantes” with Clément Cogitore

26.09.2019 - 15.10.2019

Pre-Opening: Thursday, September 26th, 2019, 7:30 pm and Opening: Friday, September 27th, 2019, 7:30 pm

Opéra National de Paris, Opéra Bastille, Paris

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): RAMEAUS „LES INDES GALANTES“. Der Barock erobert die Banlieue. Die Uraufführung von Rameaus „Les Indes galantes“ war bereits 1735. Unter Clément Cogitore bekommt die Oper nun aber einen modernen Glanz. An der Pariser Opéra Bastille vermählt der Regisseur Barockgesang und Streetdance.

Der schönste, sprechendste Moment ereignet sich zu Beginn des zweiten Akts. Die peruanische Prinzessin Phani sendet da ein Bittgebet an Hymnen, den Hochzeitsgott. Ohne Generalbass, nur auf eine Geigenstimme gestützt und von einer konzertanten Flöte umflattert, fleht die Inka-Schönheit um baldige Vermählung mit ihrem heimlichen Geliebten, einem Konquistador. Aufführungen und Aufnahmen, die ein Gespür für den introvertierten Charakter dieser Arie besitzen, verzichten hier auf Cembalo und sonstige Continuo-Instrumente, um die schlichte, verinnerlichte Dreistimmigkeit von Phanis „stiller“, gleichsam im Geiste vollzogener Anrufung hervorzuheben.
So auch in der Pariser Opéra Bastille: Sabine Devieilhe singt „Viens, hymen“ wie im Licht einer Kerze des Malers Georges de La Tour, “sotto voce”, ganz nach innen gewandt, die Koloraturen wie tönende Oszillogramme der Bebungen des Herzens. Die Stimme ist so rein und fokussiert, dass sie auch im Pianissimo bis in die Tiefen des Riesensaals hinein leuchtet, nicht gleißend, sondern zart und warm. Doch ist dieses Flämmchen im Halbdunkel nicht allein: Ein Tänzer führt in seinem Schein eine Art stilisierten Straßentanz auf, etwas stupend Virtuoses und zugleich zitternd Fragiles, dessen schwebende, vogelartige Grazie mit ganz anderen Mitteln genau dieselbe Innigkeit heraufbeschwört wie Phanis Arie.
Entführung in eine Zauberwelt.
Zwei Welten vermählen sich da, die a priori nicht fremder sein könnten: Barockoper und Streetdance. Auf dem Papier machte das Projekt die Stirn runzeln: Der Filmemacher und bildende Künstler Clément Cogitore hatte angekündigt, gemeinsam mit der aus der Hip-Hop-Bewegung herstammenden Tänzerin und Choreografin Bintou Dembélé Jean-Philippe Rameaus opéra-ballet „Les Indes galantes“ (1735) einer „dekolonialistischen“ Lektüre unterziehen zu wollen. Derlei Vorhaben sind, was Bühnenwerke angeht, selten ergiebig. Doch Cogitores Inszenierung macht die anfängliche Skepsis bald einem leisen Staunen weichen, das bis zum Ende des vierstündigen Abends dann zu lautstarker Euphorie anschwillt.
Dem 36 Jahre alten Regisseur gelingt die gerade bei Barockwerken seltene Quadratur des Kreises, auf gängige Regie-Mätzchen zu verzichten und schlüssige szenische Äquivalente für das zu finden, was Libretto und Partitur „erzählen“, und nicht zuletzt eine ganz eigene Bild- und Gestensprache zu schaffen.

Das um 1700 aus dem Hofballett hervorgegangene opéra-ballet – ein genuin gallisches Genre – hat zuvörderst zum Ziel, die Zuschauer in eine Zauberwelt zu entführen. „Divertir“ (unterhalten) und „émerveiller“ (staunen machen) sind zentrale Losungen der Gattung. Genrekonform besteht Rameaus beliebtestes Bühnenwerk aus vier unverbundenen „entrées“, die ein Prolog thematisch zu verklammern sucht. Jeder der vier Akte zeigt eine Liebesgeschichte in einem „indischen“ – nach damaligem Sprachgebrauch: amerikanischen oder asiatischen – Volk. Auf Türken folgen so Inkas, Perser und nordamerikanische „Wilde“.

Mehr als nur vom Serail ins Bordell.
Cogitore und seine grandiosen visuellen Gestalter – Alban Ho Van (Bühnenbild), Wojciech Dziedzic (Kostüme) und Sylvain Verdet (Licht) – versuchen nicht zu rationalisieren, was weder Hand noch Fuß hat. Vielmehr setzen sie auf einen traumhaften Antinaturalismus mit verfremdeten Versatzstücken aus der Jetztzeit. Gehören die tätowierten Cherubim, die im Prolog die Liebesgöttin flankieren und in jedem Akt die Ballettsequenzen einleiten, der Welt einer hier ethnisch eingefärbten Mythologie an, so verweist das Gegenüber von Behelmten mit Samurai-Touch und „Wilden“ in Streetwear klar auf den Kleinkrieg zwischen Bereitschaftspolizisten und Kapuzenträgern in Frankreichs Problem-Banlieues. Desgleichen sind die Arbeiter in orangefarbener Kluft und die Mädchen in Rotlicht-Glaskabinen Chiffren der Ausbeutung, zugleich aber auch Vektoren einer ebenso originellen wie erhellenden Werkdeutung. Den Perser-Akt etwa versetzt Cogitore nicht nur vom Serail ins Bordell (was für sich allein bloß billig wäre), sondern deutet er vor allem zum polyamoren Verkleidungsspiel zwischen einem Zuhälter und dreien seiner Damen um. Das mag dem Text Gewalt antun, nicht aber der Musik: Das vormozartisch innige Quartett „Tendre amour“ addiert nicht zwei Paare, sondern lässt vier Stimmen erst kanonisch, dann in wechselnden Zweierkonfiguration miteinander schmusen und verschmelzen.
Auch musikalisch verdient der Abend weitgehend Superlative. Leonardo García Alarcón animiert seine Cappella Mediterranea zu sinfonischem Vollklang und angriffslustiger Artikulation – nichts schadet Rameau mehr als kammermusikalische Verniedlichung und kantenlose Oberflächenpolitur. Die Agogik im Kleinen, die Tempo- und Dynamikrelationen im Großen sind oft originell gestaltet. Wie der Dirigent etwa die „Danse du Grand Calumet de la Paix“ aufbaut, den Ohrwurm gegen Ende des Indianer-Akts, ist mitreißend: Alarcón beginnt das Rondeau “mezza voce”, im lässigen Détaché, gleichsam das Skalpmesser zwischen den Zähnen, schattiert jede Wiederkehr des Hauptthemas leicht anders ab und lässt das Stück am Ende in archaischer Grausamkeit gipfeln. Die neunundzwanzig Tänzerinnen und Tänzer von Dembélés Compagnie Rualité legen dazu einen kongenialen Tanz aufs Parkett, ein Sample diverser Streetdance-Stile, dessen raubtierhafte Virtuosität dem Publikum am Schluss einen Begeisterungsschrei entlockt. Schon lang vor der letzten Note brandet tosender Beifall über den Orchestergraben – von der abschließenden, über fünfminütigen Chaconne sind so keine sechzehn Takte mehr zu hören!

Abstriche gibt es lediglich im Vokalen. Nicht bei dem stupenden Chœur de chambre de Namur, der so deutlich artikuliert, dass er sogar mit dem Rücken zum Saal zu verstehen ist. Wohl aber bei den sieben Gesangssolisten, die als Ensemble stilistisch disparat wirken und einzeln zum Teil nicht frei sind von Problemen, was Intonation, Diktion und Timbre angeht. Einzig Sabine Devieilhe setzt als Hébé, Phani und Zima neue, himmelhohe Standards. Julie Fuchs, die andere Starsopranistin der Produktion, wirkte demgegenüber bei allem Nuancierungswille am Premierenabend etwas befangen. Die Aufführung vom 10. Oktober wird live auf Arte Concert sowie in ausgewählten Kinosälen weltweit übertragen. Sollte dieser Filmmitschnitt dereinst auf DVD erscheinen, läge für „Les Indes galantes“ eine moderne Referenzaufnahme vor – endlich!

(Text: Marc Zitzmann, Foto: Copyright: Little Shao, ONP. Ihr Gesang bleibt nicht allein: Sabine Devieilhe als Phani trifft auf mythische Straßentänzer.)

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