„Höhlenforscher in der digitalen Unendlichkeit“ von Regine Müller, Handelsblatt, 19.03.2024

19.03.2024 - 26.05.2023

Solo Show „Tim Berresheim. Neue Alte Welt“

NRW-Forum, Düsseldorf

Der Künstler Tim Berresheim hat seine Retrospektive in Düsseldorf als überbordendes Gesamtkunstwerk selbst inszeniert. Was analog entstand und was digital, lässt sich dabei nicht immer erkennen.

Digitale Kunst versteht sich meist als Plädoyer für unendliche Möglichkeiten. Sie steht für die schwerelose Entfaltung von Kreativität, die nicht mehr mit den Mühen des Materials, mit Pinsel und Farbe, Marmor und Bronze ringen muss. Tim Berresheim gilt als Pionier der digitalen Kunst und sieht das ganz anders.

Der 49-Jährige versteht sich verblüffenderweise als Höhlenforscher, der sich mit seiner Kunst zurückdenkt an die Anfänge der Menschheit. So ist es nur konsequent, dass gleich der erste Raum seiner Retrospektive „Neue alte Welt“ im Düsseldorfer NRW-Forum in eine Urzeithöhle eintaucht.
Eine 30 Meter lange Wandarbeit verwendet einen Datensatz, den er in einer Höhle in der Nähe von Blaubeuren einscannte. Auf die Wand gebracht nutzt er ihn zur Inszenierung seiner Werke.

„Con l’altra mano dentro sulla grotta“, also „Mit der anderen Hand in der Höhle“, nennt er diese Wandgestaltung. Sie funktioniert wie ein barockes Bühnenbild, weil sie Tiefen vorgaukelt, wo nur eine glatte Wand ist.

„Sleep Walk Carte-Vue“ heißt das erste Bild auf dieser Wand. Es zeigt einen Kopf im Profil, der Hinterkopf wirkt wie aufgeschäumt und geht über in ein wolkiges Gebilde. Oder versteinert dieser Kopf? Die Papierarbeit besteht aus Harz und Pigmenten.

Auf der gegenüberliegenden Wand hängt ein großes Querformat, „Ich. Heute“. Der Chromogendruck zeigt schematische Figuren, eine Art Prototyp, der Ähnlichkeit aufweist mit Figuren, die er Aspettari, Wartende, nennt.

Enzyklopädische Kunstwelt
Damit bezeichnet Berresheim eine Haltung, die sich der Vergangenheit stellt und sich zugleich der Zukunft zuwendet. Den nachtschwarzen Raum, durch den sich „Ich. Heute“ in vierfacher Ausgabe bewegt, durchziehen virtuelle Schlieren wie Nordlichter im Weltall des digitalen Raums.

Zwischen Höhle und digitaler Unendlichkeit breitet sich Tim Berresheims enzyklopädische Kunstwelt aus. Ein paar Schritte weiter überraschen drei altmeisterliche Linolschnitte, ganz analog hergestellt. Eine Reihe von Vitrinen präsentiert akribisch gesammelte Materialien, Fundstücke aus Alltag und Natur, feine Zeichnungen, mit denen der Künstler Details und Ideen notiert.

Das Maximale als Programm
Berresheim gräbt und wühlt nicht nur in Höhlen, sondern auch in der Kunst- und Ideengeschichte. Ein Bild scheint einen Blick in seinen Kopf zu gestatten: „Atelier (Kohärentes Licht)“ zeigt einen Schreibtisch von hinten mit Bürostuhl und Bildschirm, durch die Luft wirbeln Papierblätter, als würde ein Sturm durch den Raum fegen, oben schwebt eine Comicfigur, eine Null auf zwei Beinen, daneben steht „Maximalismo“. Das Maximale, das ist Tim Berresheims Programm.

Das Digitale sei ihm nur ein Werkzeug, sagt Berresheim, nur zu zehn Prozent arbeite er mit dem Rechner, der Rest sei analoge Arbeit: „Das sind zwei schwere Geburten, in den Computer rein und dann wieder heraus. Aber der Computer ermächtigt mich, Bilder zu machen der immer komplexer werdenden Welt.“

Die entstehenden Bilder sind in ihrer Machart schwer erkennbar, manche wirken wie Fotoarbeiten, andere sinnlich wie pastose Malerei, Berresheim nutzt alle erdenklichen Drucktechniken, vom Siebdruck bis zur Kupfergravur. Die Möglichkeiten seien noch nicht im Ansatz erschöpft: „Das Steinzeitmoment ist unser Hirn, was wir damit machen, ist nur rudimentär!“

Kunst am Himmel
Die Fülle der Schau ist fast unübersehbar, es gibt Skulpturales, Videoarbeiten, Collagen und eine Arbeit, die sich in der Tradition der sozialen Raumskulptur versteht: „Himmelszeichnerei“ ist ein abstraktes Bild mit erstaunlicher Entstehungsgeschichte: Berresheim ließ Kinder Linien malen, ohne dass sie absetzen sollten. Die entstandenen Gebilde ließ er von einem Kunstflieger in den Himmel malen, die Kinder konnten mit Limonade und Würstchen zuschauen.
Das buchstäblich himmlische Ergebnis speiste er wiederum ein in seine Systeme. Mit dem digitalen Faustkeil, wenn man so will. „Wir sind moderne Steinzeitmenschen, die in einer digitalen Höhle leben“, sagt Berresheim.

Wer mehr Werke von Berresheim kennenlernen möchte, findet große Arbeiten beispielsweise in der Kölner Galerie Falko Alexander für jeweils 32.000 Euro. Die Stuttgarter Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff offeriert kleinere Arbeiten bereits ab 3.300 Euro. Die Galerie wird damit vom 25. bis 28. April auf der Berliner Messe „Paper Positions“ vertreten sein.

„Tim Berresheim: Neue alte Welt“: bis 26. Mai 2024.
NRW-Forum Düsseldorf · Ehrenhof 2 · D - 40479 Düsseldorf.



Abbildung: Blick in die Ausstellung „Alte neue Welt“ von Tim Berresheim im NRW-Forum in Düsseldorf. Foto: Anne Orthen.

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